Wie soll ich das nur alles durchhalten?
Liebe Gemeinde,
Anfang September 1982 – ich war 19 Jahre alt – habe ich das wahrscheinlich intensivste Gebet meines bisherigen Lebens gesprochen. Ich kniete vor meinem Bett und habe Gott inständig darum gebeten, dass er meinen krebskranken Vater heilt und er nicht stirbt. Als ich von dem Gebet aufstand, hatte ich das Gefühl, dass Gott mein Gebet erhört hat. Wenige Tage später ist mein Vater im Alter von 49 Jahren gestorben. Gott hat mein Gebet nicht erhört, jedenfalls nicht so, wie ich das gerne gehabt hätte. Wie sollte ich das nur alles durchhalten? Nicht zuletzt mit meinem neuen Verantwortungsgefühl gegenüber meiner 13 jährigen Schwester und meiner psychisch kranken Mutter?
Am Gründonnerstag betet Jesus das vermutlich intensivste Gebet seines Lebens. Er ringt im Garten Gethsemane mit seinem himmlischen Vater und bittet ihn, dass der Kelch an ihm vorüber gehen möge. (Mt 26,39) Das Lukas-Evangelium berichtet sogar, dass er dabei Blut schwitzt. (Lk 22,44) Gott hat sein Gebet nicht erhört. Jedenfalls nicht so, wie Jesus das gerne gehabt hätte. Wie sollte er das, was vor ihm lag, nur alles durchhalten?
Am Gründonnerstag, liebe Gemeinde, kommen ganz wesentliche menschliche Erfahrungen im Leben von Jesus in wenigen Stunden zusammen. Da gibt es die Erfahrung von unerhörten Gebeten, zumindest vermeintlich unerhörter Gebete, Gebete über ganz wesentliche Dinge. Da gibt es die Erfahrung von Verleugnung und Verrat, von verlassen werden und Einsamkeit. Und es gibt die Erfahrung von Gemeinschaft, Tischgemeinschaft. Jesus feiert mit seinen Jüngern das heilige Abendmahl.
Als ich ein kleiner Junge war, hat mich mein Vater oft mitgenommen in das Haus, in dem er geboren wurde und in dem er auch aufwuchs. Das Haus gehörte damals seinem Onkel und seiner Tante und die Familie meines Vaters hat dort zur Miete gewohnt. Später gehörte das Haus dem Cousin meines Vaters. Nach dem Tod meines Vaters bin ich oft auch alleine dort hin gegangen. Wir saßen am Tisch im Esszimmer. Es gab etwas zu trinken und manchmal auch eine Kleinigkeit zu essen. Ich hatte immer das Gefühl, dass mein Vater und ich und später ich allein dort willkommen sind.
Ich habe mal eine Predigt gehört, da kam immer wieder der Satz vor: „Denk ich an Liebe, denke ich an einen Tisch.“[1] Ein Tisch ist meistens der Mittelpunkt einer Wohnung. Man trifft sich dort zum Essen und Trinken, zum Reden und um Gesellschaftsspiele zu spielen. In unserer Familie hat jedes Familienmitglied einen ganz bestimmten Platz am Tisch. Und ich vermute, dass das in anderen Familien ähnlich ist. Es ist wichtig, dass man einen Platz hat am Tisch. Und manchmal muss man – wie im Theaterstück – noch einen zusätzlichen Platz schaffen. Keinen Platz zu haben am Tisch, ist eine schreckliche Sache.
Bei einer meiner Reisen nach Amerika haben wir mit unserer Gruppe eine kirchliche Einrichtung besucht, in der man sich um Menschen am Rande der Gesellschaft kümmert. Eine der wichtigsten Tätigkeiten in diesem Haus – so wurde uns gesagt – besteht darin, zusammen zu kochen und zusammen zu essen. Eines Tages kam ein junger, etwa Mitte 20 jähriger Mann zum ersten Mal in diese Einrichtung. Er war sehr muskulös und er sah nicht gerade ängstlich aus. Als man sich nach dem Kochen zum Essen an den Tisch setzte, begann dieser Mann plötzlich zu zittern. Der Leiter der Einrichtung fragte ihn, was denn los sei, warum er zittere. Der Mann antwortete: „Das, was wir hier machen, an einem Tisch sitzen und zusammen essen, mache ich zum ersten Mal in meinem Leben. Ich kenne das nur aus dem Fernsehen.“ Der Mann hatte keinen Tisch, jedenfalls keinen, den er mit anderen geteilt hätte. Wie sollte er da mit den Problemen seines Lebens fertig werden? Wie sollte er das alles durchhalten? Denk ich an Liebe, denke ich an einen Tisch.
In der Bibel spielt ein Tisch an einigen Stellen eine wichtige Rolle. König David nimmt den gehbehinderten Sohn seines getöteten Freundes Jonathan bei sich auf und sagt: Solange ich lebe, sollst Du einen Platz an meinem Tisch haben. (1. Sam 9) In 2. Mose 25 gibt Gott die Anweisung, dass in die sog. Stiftshütte ein Tisch gestellt werden soll mit sog. Schaubroten drauf. Das soll symbolisieren, dass die Israeliten immer einen Platz am Tisch des Herrn haben. In dem wohl bekanntesten Psalm 23 heißt es: „Du bereitest vor mir einen Tisch.“ Ein Pfarrerskollege erzählte einmal, dass ein Mann ihm mal gesagt hat, dass er vor 10 Jahren seinen Platz am Tisch des Herrn verlassen hat. So wie der verlorene Sohn einfach wegging, um sein Erbe zu verprassen. Aber so, wie der Platz am Tisch des Vaters für den verlorenen Sohn frei blieb für den Sohn, blieb auch der Platz des Mannes am Tisch des Herrn frei. Wir alle haben einen Platz am Tisch des Herrn. Einnehmen müssen wir ihn allerdings selber.
Bill Hybels, der Gründer und Hauptpastor der Willow Creek Gemeinde, hat, bevor er Willow Creek gründete, in einer anderen Kirchengemeinde parallel zu seinem Studium eine Jugendgruppe geleitet. Eines Tages fragte er seinen Theologieprofessor, ob er ihm ein paar Tipps für seine Arbeit mit der Jugendgruppe geben könnte. Einer der Tipps des Professors war: Feiert oft das Abendmahl.[2]Abendmahl feiern – das habe ich mir für die GoSpecial-Gruppe oft gewünscht. Wir haben oft gefeiert. Wir saßen an einem Tisch, haben gegessen und getrunken und haben den letzten GoSpecial Revue passieren lassen. Und ich habe gespürt, das ist wichtig – für den einzelnen und für die Gruppe. Aber Abendmahl feiern – das tun wir im Rahmen von GoSpecial heute das erste Mal.
Denk ich an Liebe, denk ich an einen Tisch. Das ist für mich eine erste Antwort auf die Frage: Wie soll ich das nur alles durchhalten? Eingebunden sein in eine Gemeinschaft, sei es im Familienkreis, sei es unter Freunden, sei es vor allem am Tisch des Herrn, das kann Kraft geben, den Problemen des Lebens ins Auge zu schauen.
Wir wollen heute nach dem GoSpecial mit einigen Leuten eine Gebetsnacht durchführen. Die Idee dazu habe ich von einem Engländer namens Pete Greig. Pete Greig ist der Gründer und Leiter der 24 – 7 prayer Gebetsbewegung.[3] Kurz nachdem Greig diese Bewegung ins Leben gerufen hatte, wird bei seiner Frau ein Tumor im Kopf festgestellt. Greig ringt mit Zweifeln – an der Wirksamkeit des Gebets und der Existenz Gottes. Und fragt in dieser Situation seine Frau, ob sie an Gott zu zweifeln beginne. Samie Greig antwortet: „Wie könnte ich an Gott zweifeln? Er ist doch alles, was ich noch habe.“[4] Diese Antwort spiegelt für mich innere Stärke und Würde wider. Und das ist es auch, was mich an Jesus beeindruckt. Auch er spiegelt eine bewundernswerte innere Stärke und Würde wider, die – so glaube ich – ein Nebenprodukt des Gebets im Garten Gethsemane ist. Als der Knecht des Hohenpriesters ihn schlägt, sagt Jesus zu ihm: „Habe ich übel geredet, so beweise, dass es böse ist; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich?“ (Joh 18,23) Daraus kann man eine zweite Antwort ableiten auf die Frage, wie ich das nur alles durchhalten soll. Intensives Gebet führt zwar nicht zwangsläufig zu einem Ergebnis, das ich gerne hätte, aber es verleiht eine innere Stärke, die mich befähigt, das Leid besser und aufrechter durchzustehen, eine innere Stärke, die ihren Grund hat in der Bindung zu Gott.
Und schließlich gibt es für mich noch eine dritte Antwort auf die Frage „Wie soll ich das alles durchhalten?“ Heute ist Gründonnerstag, der Tag des unerhörten Gebets. Morgen ist Karfreitag, der Tag der Kreuzigung. Aber am Sonntag ist Ostern, der Tag, an dem wir der Auferstehung Jesu gedenken. Es ist etwas passiert, mit dem man nicht rechnen konnte. Gott hat einen neuen Anfang gesetzt. Er hat sein Gebet im Garten Gethsemane zwar nicht so erhört, wie Jesus das gerne gehabt hätte. Aber er hat etwas anderes für ihn getan. Etwas, was der Anfang gewesen ist der großen Verwandlung dieser Welt, eine Verwandlung, bei der wir hoffen können, dass auch unsere unerhörten Gebete darin eingebunden sein werden, eine Verwandlung dahin, dass Gott alle Tränen abwischen (Offb. 21,4) und eines Tages alles in allem sein wird. (1. Kor 15,28) Amen.
[1] Die Predigt war von John Ortberg. Er hielt sie am 04. August 2013 in der Willow Creek Community Church. Dieser Predigt verdanke ich wesentliche Impulse für meine eigene Predigt.
[2] Vgl. Lynne und Bill Hybels, Ins Kino gegangen und Gott getroffen. Die Geschichte von Willow Creek, Wiesbaden 1996, 55.
[3] Vgl. Pete Greig / Dave Roberts, Red Moon Rising. Wenn Freunde anfangen zu träumen und zu beten. Die Geschichte von 24-7 prayer, Witten, 6. erw. Auflage 2015.
[4] Pete Greig, Offline. Warum antwortest du nicht, Gott? Gießen 2009, 44.