Wirf dein Morgen nicht weg!
Liebe Gemeinde![1]
Am Donnerstag, dem 31. Oktober 2002 klingelt es in einer Villa in der Nähe von Schweinfurt an der Haustür. Das Au-pair-Mädchen öffnet und geht dann ins Wohnzimmer, wo der Hausherr mit einem seiner beiden kleinen Söhne Mikado spielt. „Da sind wieder die beiden Herren, die schon einmal da waren“, sagt das Au-pair-Mädchen. Der Hausherr wundert sich und geht zur Eingangstür. Da stehen zwei Polizeibeamte der Kripo Wirtschaft von Schweinfurt. „Können wir Sie mal einen Moment sprechen“, sagt einer von beiden. „Natürlich“, antwortet der Hausherr und denkt sich: „Was wollen die denn schon wieder von mir?“ Sie gehen eine Etage höher in einen Büroraum, wo sie Platz nehmen. Einer der beiden Beamten schaut den Hausherrn mit einem teilnahmsvollen Gesicht an und sagt dann: „Wir haben einen Haftbefehl. Wir müssen Sie mitnehmen.“
Der Hausherr starrt den Kommissar fassungslos an. Er fühlt sich, als sei er mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Mauer gefahren. Alles um ihn herum dreht sich. Unzählige Bilder gehen ihm durch den Kopf. Er sieht seine Frau, wie sie weint, die traurigen Augen seiner Kinder, die entsetzten Blicke seiner Mitarbeiter, Freunde und Kunden. Nach fünf Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkommen, hört er erneut die Stimme des Kommissars: „Packen Sie jetzt bitte ein Paar Dinge zusammen. Wir müssen Sie mitnehmen.“[2]
Der Mann, um den es geht, heißt Jürgen Höller. Er hat durch viel Fleiß und eiserne Disziplin es zu Deutschlands erfolgreichstem Motivationstrainer gebracht. Ich habe zu Beginn des Jahres 2000 zum ersten Mal von Jürgen Höller gehört. Er war von Christoph Daum, dem damaligen Bundesligatrainer von Bayer Leverkusen verpflichtet worden, um im Wintertrainingslager die Leverkusener Spieler mental zu trainieren. Bayer Leverkusen hat in jener Saison die deutsche Meisterschaft knapp verpasst, aber sie war die beste Rückrundenmannschaft und spielte zeitweise fantastischen Fußball.[3] Jürgen Höller war damals auf dem Höhepunkt seines beruflichen Erfolgs. Ein Mann aus einfachen Verhältnissen, aus einer Arbeiterfamilie mit mittlerer Reife als Schulabschluss hatte es nach ganz oben geschafft. Der Wert seiner Firma „Inline“ wird damals auf sage und schreibe 250 Millionen Mark geschätzt.[4] Jürgen Höller gibt heute zu, dass er damals hochmütig wurde.[5] In einem Interview sagte er, dass er die Dollarzeichen sozusagen in den Augen hatte.[6] Durch unglückliche Umstände, insbesondere die Anschläge am 11. September 2001, gingen die Aktienkurse in den Keller und ein Großteil des Vermögens von Jürgen Höller schwamm davon. Er gerät in Panik und macht Fehler[7] und wird schließlich wegen Untreue, falscher eidesstattlicher Versicherung und vorsätzlichem Bankrott zu drei Jahren Haft verurteilt.[8] Es war ein Absturz wie man ihn sich größer in Deutschland in Friedenszeiten kaum vorstellen kann. Statt in einer Luxusvilla[9] lebt er jetzt in einer 1,5 x 2,5 Meter großen Gefängniszelle.[10] Es geht ihm gefühlsmäßig ähnlich wie der Frau im Theaterstück: Er fühlt sich am Boden und innerlich müde. Aber ähnlich wie die Frau im Theaterstück hält er an seinem Glauben an Gott fest. Zu den wenigen Dingen, die er bei seiner Verhaftung mitnehmen konnte, gehörte seine Bibel.[11] Jetzt in der Haft nimmt er sich täglich eine Stunde Zeit, um in der Bibel zu lesen und um zu beten. Das gibt ihm Kraft.[12] Darüber hinaus macht er in der Zelle Gymnastik-Übungen und die eine Stunde Hofgang täglich nützt er um immer wieder im Kreis herum zu joggen.[13] Er will eines Tages das Gefängnis topfit verlassen. Er weigert sich, sein Morgen wegzuwerfen.
Wirf dein Morgen nicht weg. Das ist das Motto dieses Gottesdienstes. Vor einigen Jahren waren zwei Männer unterwegs auf einer Vortragsreise zu verschiedenen Veranstaltungen in verschiedenen Städten. Als sie in einem Flugzeug saßen, gingen sie die Abläufe der einzelnen Tage noch einmal durch, die für jeden Tag extra auf einem Blatt Papier standen. Einer der beiden Männer knüllt plötzlich ein Blatt zusammen und will es wegwerfen, weil er glaubt, dass der Ablauf des gerade vergangenen Tages drauf steht. Da sagt der andere: „Hey, das ist der Ablauf von morgen. Wirf Morgen nicht weg.“[14]
Wirf Morgen nicht weg! Wirf dein Morgen nicht weg! Das ist so leicht passiert. Papier zusammenknüllen, wegwerfen. Zur Tagesordnung übergehen.[15] Im Gefängnis, aber wahrscheinlich nicht nur im Gefängnis, könnte das heißen: resignieren, sich hängen lassen.
Wir werfen unser Morgen weg, wenn wir – wie der zweifelnde Thomas - an die Auferstehung Jesu erst glauben wollen, wenn wir seine Wundmale sehen. Der Frau im Theaterstück ging es ähnlich. Auf unsere Zeit übertragen könnte das heißen: Wir wollen im Vorhinein genau wissen, dass die Sache, an der wir gerade dran sind, auch 100 % ig funktioniert. Es gab im Vorfeld dieses Gottesdienstes gravierende Probleme und ich hätte mehrfach Grund genug gehabt, diesen Gottesdienst abzusagen. Aber dann hätte ich mein Morgen weggeworfen, dann hätte ich diesen Gottesdienst weggeworfen. So konnte ich erleben, dass die Lücken, die sich auftaten, geschlossen werden konnten und zwar teilweise auf eine Art und Weise, mit der ich vorher nicht rechnen konnte.
Wir werfen unser Morgen weg, wenn Menschen uns verlassen und wir glauben, dass wir es ohne sie nicht schaffen. Jürgen Höller hatte viele Freunde, solange er erfolgreich war. Jetzt in der Haft sind ihm nicht mehr viele Freunde geblieben. Zum Glück haben aber vor allem seine Frau und sein Schwager zu ihm gehalten.
In der Bibel gibt es einen Brief, den 2. Timotheusbrief, in dem eine ganz ähnliche Situation geschildert wird. Es wird berichtet, dass der Apostel Paulus im Gefängnis sitzt und von vielen bisherigen Gefährten verlassen wurde. (2. Tim 1,15 u.a.) Aber Paulus macht das Negative nicht größer als es ist. Er erwähnt auch die Personen, die weiter zu ihm halten. Namentlich wird z.B. Lukas erwähnt. (2. Tim 4,11) In diesem Brief steht der recht bekannte Bibelspruch: „Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben“ – auch dann nicht, wenn wir von vielen verlassen werden und/oder im Gefängnis sitzen –„sondern einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7)
Es gibt im Alten Testament eine Geschichte, die in besonderer Weise zeigt, dass Gott nicht will, dass wir unser gutes Morgen wegwerfen. Das Volk Israel ist auf dem Weg von der Sklaverei in Ägypten in das gelobte Land Kanaan. Eines Tages gibt Gott Mose den Auftrag, zwölf Männer auszuwählen, die das Land Kanaan auskundschaften sollen. (4. Mose 13, 1-20) Als sie zurückkommen, sind sie einhellig voll des Lobs über dieses Land. Es ist ein gutes Land, ein Land, in dem sprichwörtlich Milch und Honig fließt, ein Land, in dem das Volk ein gutes Morgen haben könnte. (4. Mose 13,27) Aber zehn der zwölf Kundschafter beeilen sich hinzuzufügen, dass das Volk, das dort wohnt, stark ist, ja zu stark für das Volk Israel. (4. Mose 13,28.31) Es gäbe in diesem Land sogar Riesen. (4. Mose 13,33) Das Herz der Israeliten rutscht ihnen daraufhin in die Hose. Sie wünschen sich, lieber in Ägypten gestorben zu sein oder hier in der Wüste zu sterben. (4. Mose 14,2) Sie sterben lieber, als für ihr gutes Morgen zu kämpfen. Sie werfen ihr Morgen weg. Übertragen auf unsere Zeit könnte das heißen: Wir haben eine tolle Idee, vielleicht eine Idee von Gott, jedenfalls eine Idee, die unser Herz höher schlagen lässt. Eine Idee, bei deren Umsetzung wir unser eigenes Morgen und vielleicht auch das Morgen anderer Menschen zu einem besseren Morgen machen würden. Aber dann kommen Schwierigkeiten. Irgendjemand macht ein bedenkliches Gesicht und sagt: Das ist unmöglich. Und er fügt hinzu: Du doch nicht. Was glaubst Du eigentlich, wer Du bist? Und unser Herz rutscht uns in die Hose. Wir geben die tolle Idee, wir geben die Vision von einem besseren Morgen heimlich an Gott zurück. Wir werfen unser Morgen weg.[16]
Zwei der zwölf Kundschafter werfen ihr Morgen nicht weg: Josua und Kaleb. Sie halten fest an der Zusage Gottes: „Der Herr ist mit uns. Fürchtet euch nicht vor ihnen!“ (4. Mose 14,9) Josua und Kaleb sind die einzigen der 12 Kundschafter, die das gelobte Land schließlich erreichen. Die anderen sterben vorher in der Wüste (4. Mose 14,36), wie auch alle Israeliten über 20 Jahren. (4. Mose 14, 29f) Sie bekommen das, was sie sich negativ gewünscht haben!
Als Jürgen Höller aus der Haft entlassen wurde, hat er sofort angefangen, an seinem Comeback zu arbeiten. Fünf Jahre später hat er zum ersten Mal wieder eine große Halle gefüllt, zum Motivationstag in Nürnberg. Seiner eigenen Rede gab er den Titel: „Der Reichtum liegt im Glauben.“ Und das war doppeldeutig gemeint. Der Glaube an Gott und der Glaube an sich selbst. Und genau darum geht’s. Wir alle haben Fähigkeiten, wir alle sind fähig in bestimmten Bereichen. Und Gott ist erst recht fähig. Aber wir müssen den ersten Schritt machen. Als die Israeliten kurz davor stehen, in das gelobte Land einzuziehen, müssen sie nur noch den Jordan durchqueren. Gott gibt Josua, dem Nachfolger von Mose, den Auftrag, den Priestern, die die Bundeslade tragen, zu sagen, dass sie ihre Füße in das Wasser des Jordan stellen sollen. Dann - und erst dann – wird sich das Wasser des Jordan stauen wie ein Wall (Jos 3, 8.13) und die Israeliten werden den Jordan trockenen Fußes durchqueren können. (Jos 3, 17)
Werfen wir unser Morgen nicht weg! Machen wir den ersten Schritt und geben Gott die Chance uns zu helfen, in unser gelobtes Land, in unser gutes Morgen einzuziehen! Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. (Phil 4, 7) Amen.
[1] Den Titel und die Idee für diese Predigt verdanke ich dem Buch von Robert H. Schuller, Wirf dein Morgen nicht weg! Lebe Gottes Traum für dein Leben, o. O. 2006.
[2] Vgl. Jürgen Höller, Und immer wieder aufstehen. Wie ich die größte Krise meines Lebens bewältigte, Zürich 2003, 11 – 13.
[3] Vgl. ebd., 67f.85-89.
[4] Vgl. ebd., 104.
[5] Vgl. ebd.
[6] http://www.stern.de/lifestyle/leute/was-macht-eigentlich-juergen-hoeller-536272.html
[7] Vgl. Höller, 170.
[8] http://www.spiegel.de/wirtschaft/juergen-hoeller-drei-jahre-haft-fuer-den-erfolgversprecher-a-243852.html
[9] Vgl. Höller, 83.
[10] Vgl. ebd., 15.
[11] Vgl. ebd.
[12] Vgl. ebd., 17.
[13] Vgl. ebd., 172 – 175.187.
[14] Vgl. Schuller, 17.
[15] Vgl. ebd.
[16] Vgl. ebd., 19.