Der Retter ist da!

Liebe Gemeinde,

 

vor einigen Jahren entschieden sich fünf Freunde spontan an ihrem letzten Urlaubstag in Australien eine Spritztour durch einen nahegelegenen Nationalpark zu machen. Sie mieteten sich einen Geländewagen und fuhren los. Die Fahrt ging durch wunderschöne Landschaft. Sie sahen riesige Eukalyptusbäume, Teppiche aus Orchideen und Farnen und Wasserfälle, über denen ein sanfter Nebel lag. Es war herrlich. Es war herrlich, bis Mick, der am Steuer saß, die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Das Auto rutschte eine Böschung hinab und steckte im Morast wie eine Mandel in einem Schokoriegel. Zum Glück war niemand verletzt. Aber sie brauchten mehr als zwei Stunden, um den Wagen wieder nach oben auf den Fahrweg zu bringen. Als sie dann weiterfahren wollten, ließ sich das Auto nicht mehr starten. Alle Versuche diesbezüglich schlugen fehl. Daraufhin entschieden sie sich, zu Fuß zurück zu gehen. Sie waren schon einige Stunden unterwegs, als es dunkel wurde. Im Schein einer Taschenlampe gingen sie auch in der Dunkelheit weiter, bis Sally schließlich sagte: „Wir müssen eine Pause machen.“ Sie setzten sich nieder, als es zu regnen anfing. In ihren Shorts und T-Shirts wurde ihnen kalt und ihre Glieder begannen zu schmerzen. Mittlerweile war es ein Uhr nachts. Ihre Mägen knurrten. Die letzte Mahlzeit lag zwölf Stunden zurück. An Schlaf war kaum zu denken. Zu groß war ihre Furcht. Fünf Stunden später ging die Sonne wieder auf. Sie suchten nach einem Orientierungspunkt, konnten aber keinen finden. Sie hatten sich verirrt. Da sagt Mick zu den anderen: „Ich werde mich allein auf den Weg machen, um Hilfe zu holen. Ich fühle mich kräftig genug. Wenn wir alle gehen würden, würdet ihr mich nur aufhalten. Ich werde Hilfe schicken.“ Die vier Zurückgebliebenen machten in den nächsten Stunden ein Wechselbad der Gefühle durch. Auf der einen Seite hatten sie Hoffnung, dass Mick Hilfe schicken würde. Auf der anderen Seite – was wäre, wenn Mick den Weg aus dem Urwald heraus nicht finden würde? Oder wenn er den Weg zwar finden und Hilfe schicken würde, dies Hilfe aber sie im Urwald nicht finden würde. Zumindest Christine hatte zeitweise sehr trübselige Gedanken. Sie dachte sogar daran, dass sie hier im Urwald würde sterben müssen. Dann nach neun Stunden hörten sie das Geräusch eines Hubschraubers. Christine sprang auf und schrie: „Wir sind gerettet!“ Und dann kam ihr Gedanken, die ihr wie Gedanken Gottes in ihren eigenen Gedanken vorkamen: „Ja Christine, du bist gerettet. Vergiss nie, wie es sich anfühlt, gerettet zu sein. Aber vergiss auch nie, wie es sich anfühlt verloren zu sein. Vergiss nie den Unterschied zwischen einem sorglosen Gefühl des Glücks am Morgen und dem Gefühl der Angst und Furcht in der Dunkelheit am Abend, weil man vorher zu sorglos gewesen ist. Vergiss nie, dass ich immer da bin. Vergiss nie, dass ich jeden Menschen retten möchte. Und vergiss auch nie, wie es ist, in der Dunkelheit zu sitzen und ohne fremde Hilfe nicht mehr herauszukommen.“

Die Rettungsmannschaft ließ vom Hubschrauber eine Strickleiter und ein Rettungsseil herab. Einer nach dem anderen machte sich am Rettungsseil fest und kletterte die Strickleiter hoch. Als Christie an der Reihe war, war sie überwältigt davon, was eine ausgestreckte rettende Hand für einen Unterschied ausmacht.

Als Mick den Weg aus dem Urwald gefunden und Hilfe gerufen hatte, hatte das Bergungsteam alles sofort stehen und liegen gelassen und hat sich auf den Weg gemacht, um die vier Zurückgebliebenen zu suchen. Jemanden zu retten hat seinen Preis. Der Retter riskiert etwas. U.U. riskiert er alles. Genau das tat Gott, als er seinen Sohn Jesus Christus in die Welt schickte, um zu suchen, zu finden und zu retten, was verloren ist.[1]

„Der Retter ist da!“ So lautet das Motto von diesem GoSpecial. Dieser Satz stammt aus einem Weihnachtslied. Einem Lied, das fast nur an Heilig Abend gesungen wird. Für Heilig Abend aber das Weihnachtslied schlechthin ist: Stille Nacht, heilige Nacht. In Strophe zwei heißt es: Christ, der Retter ist da! Wie rettet Jesus Christus heute? Er rettet u. a. indem er seine Nachfolger zu den Verlorenen schickt. Wir haben im Theaterstück etwas abgewandelt die Geschichte vom verlorenen Groschen gesehen. Sie steht in Lk 15. In diesem Kapitel gibt es noch zwei weitere Geschichten über jemand bzw. etwas Verlorenes. Zum einen die Geschichte vom verlorenen Schaf und zum anderen die Geschichte vom verlorenen Sohn. Bei der Geschichte vom verlorenen Schaf geht es darum, dass eines von 100 Schafen sich verirrt hat und der Hirte sich auf die Suche macht nach dem einen Schaf und die anderen 99 zurücklässt und froh ist, wenn er das eine wieder gefunden hat. Bei der Geschichte vom verlorenen Sohn bittet einer von zwei Söhnen seinen Vater ihm sein Erbteil auszuzahlen. Der Sohn zieht in die weite Welt hinaus und verprasst sein Erbe in Windeseile. Da geht er in sich, wird sich bewusst, dass er falsch gehandelt hat und kehrt zu seinem Vater zurück, will sich bei ihm entschuldigen und ihn bitten, dass er ihn zu einem seiner Tagelöhner macht. Der Vater sieht ihn von weitem, läuft ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und lässt ein Fest für ihn ausrichten, weil er froh ist, dass sein Sohn wieder da ist. Diese drei Geschichten wollen zeigen, dass die verlorenen Gott wichtig sind. Und Verlorene gibt es überall. In jeder Stadt und in jedem Dorf, in Slums wie in vornehmen Vorstädten und auch in unserer Nachbarschaft. Und manchmal gehören wir selbst auch dazu. Dann sind wir froh, wenn es jemanden gibt, der uns seine rettende Hand entgegenstreckt.

Jesus rettet, indem er erstens seine Nachfolger zu den Verlorenen schickt. Er rettet zweitens durch sein Wort, die Bibel. Der in kirchlichen Kreisen auch international sehr bekannte, mittlerweile 90 Jahre alte Theologie-Professor Jürgen Moltmann, der in einem letztlich atheistischen Elternhaus groß wurde, wurde als junger Mann gegen Ende des Krieges eingezogen. Er geriet in britische Kriegsgefangenschaft und kam in ein Gefangenenlager nach Schottland. Dort sah er, wie Kameraden innerlich zerbrachen und verzweifelten. Auch er selbst war der Verzweiflung nah. Da schenkte ein britischer Armeepfarrer ihm eine Bibel. Anfangs hat er nur mechanisch in dem Buch gelesen. Doch dann kam zu Psalm 39, wo es um die Not des Psalmbeters geht. Jeden Abend kehrte Jürgen Moltmann zu diesen Versen zurück. Und dann las er das Markusevangelium. Insbesondere die Passionsgeschichte hat ihn gefesselt. Der Schrei Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ war für ihn ein Solidaritätsschrei. Da war jemand, der ihn verstand. Jesus, der Gottessohn hat auch gelitten. Durch diese Texte aus der Bibel – so schreibt Moltmann in seiner Autobiographie – hat Jesus ihn, den Verlorenen, im Gefangenencamp in Schottland, gesucht, gefunden und gerettet.[2]

Jesus rettet, indem er seine Nachfolger zu den Verlorenen schickt, er rettet durch sein Wort, die Bibel und er rettet durch den Glauben an ihn. Dazu noch eine letzte Geschichte:

Ende des Jahres 1992 bekam Bill Hybels, der Gründer und Hauptpastor der Willow Creek Community Church eine Einladung des gerade neu gewählten US-Präsidenten Bill Clinton ins Weiße Haus. Einige Wochen später nahm der Pfarrer die Einladung wahr und saß zusammen mit Clinton im Oval Office, dem Büro des Präsidenten. Er habe sich im Fernsehen Gottesdienste angeschaut, die Hybels mit seiner Gemeinde feiert, sagte Clinton. Und er sei beeindruckt. Außerdem habe er erfahren, dass Hybels Fortbildungen anbiete in Bezug auf Leitungsfragen. „Ich habe“, sagte Clinton, „jetzt das höchste Leitungsamt im Land. Ich bin auf gute Berater angewiesen. Ich möchte Sie zu meinem Berater in Bezug auf Leitungsfragen machen. „Oh Mr. President, ich fühle mich sehr geehrt“, sagte Hybels. „Aber es gibt Menschen, die geeigneter sind als ich.“ „Das mag sein“, antwortete Clinton. „Aber ich möchte Sie haben.“ Bill Hybels dachte eine Weile nach und sagte dann zu, stellte aber zwei Bedingungen. Erstens: Keine Presse. Die Öffentlichkeit erfährt nichts davon, solange die Abmachung gilt. Und zweitens: „Wir treffen uns einmal im Monat. Und es darf nie ausfallen. Fällt es einmal aus, so ist das Arrangement beendet.“ Clinton stimmte seinerseits zu und so trafen sich der Präsident und der Pfarrer acht Jahre lang entweder im Weißen Haus oder in Clintons Privatwohnung.

Eines Tages, als Hybels mal wieder bei Clinton im Weißen Haus war, kam gegen Ende ihres Gesprächs ein Bodyguard in den Raum. Er sagte, dass draußen schon der Hubschrauber warte, um den Präsidenten zum nächsten Termin zu bringen. Clinton sagte, dass er gleich kommen werde, dass er und der Pfarrer ihr Gespräch aber noch mit einem Gebet abschließen wollen. Der Bodyguard verließ den Raum, ließ aber einen kleinen metallenen Koffer zurück, den er an die Wand neben den kleinen Koffer von Hybels stellte. Bei dem nun anschließenden Gebet fiel es dem Pfarrer schwer, sich zu konzentrieren. Er musste ständig an diesen Koffer denken. Es ist der Koffer, den in Amerika jedes Kind kennt, den aber kaum jemand zu Gesicht bekommt. Es ist der Koffer, der immer in der Nähe des Präsidenten sein muss. Es ist der Koffer, in den der Präsident im Ernstfall, der hoffentlich nie eintreten wird, den Code eingeben kann zum Abschuss der amerikanischen Atombomben. Auch auf dem Rückflug nach Hause von Washington nach Chicago war Bill Hybels in Gedanken noch immer bei diesem Koffer. Mit einer gewissen Ergriffenheit dachte er: „Ich habe den Koffer gesehen.“ Doch dann kam ihm ein Gedanke, der ihm wie ein Zuflüstern des Heiligen Geistes vorkam: „Was hast Du denn in Deinem Koffer?“ Bill Hybels öffnete seine Tasche und nahm seine Bibel heraus. „Dieser andere Koffer“, flüsterte der Heilige Geist ihm zu, „steht für Zerstörung. Das, was in Deinem Koffer war und was Du jetzt in Deinen Händen hast, steht für Glaube, Hoffnung, Liebe.“ Und dann sagte Bill Hybels auf dem Willow Creek Kongress im Februar 2016 in Hannover, wo er diese Geschichte erzählte, etwas, was mir die Tränen in die Augen trieb. Er sagte: „Aus diesem Buch habe ich meiner Mutter vorgelesen, als sie im Sterben lag. Sie wollte sonst nichts mehr hören.“[3] Ich bekam deshalb Tränen in die Augen, weil ich meiner Mutter einen Tag vor ihrem Tod, als ich zum letzten Mal richtig mit ihr reden konnte, ebenfalls aus der Bibel vorgelesen habe. Meine Mutter hat in den Worten der Heiligen Schrift nach Heil gesucht, nach Seligkeit, nach Erlösung, nach dem Retter. Heil, Seligkeit, Erlösung, das sind alte Begriffe. Aber das, was damit gemeint ist, ist heute so aktuell wie eh und je. Es meint, dass es in unserem Leben um mehr gehen muss, als dass wir am Ende eine aufgeräumte Wohnung zurücklassen. Es meint, dass der Traum vom Glück wahr wird, dass Welt und Seele Frieden finden. Wenn Jesus jetzt an Ihres Herzens Tür anklopft, dann lassen Sie ihn herein. Denn wer ist er? Er ist der Heiland, Gottes Sohn, der Retter der Welt. Amen.



[1] Christine Caine, Der Angst keine Chance. Mein Weg zu einem Leben ohne Furcht, Asslar 2013, 152 – 165.

[2] Jürgen Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, 41f.

[3] Mitschrift aus dem Vortrag „Hart erkämpfte Führungskompetenz“ von Bill Hybels auf dem Willow Creek Leitungskongress am 13. Februar 2016 in Hannover.