Sieh auf zum Himmel und zähle die Sterne. Kannst du sie zählen?
Liebe Gemeinde,
als ich ein kleines Kind war, war ich einmal abends im Dunkeln mit meinem Vater hinter unserem Haus. Wir sahen nach oben. Und mein Vater sagte zu mir: „Sieh auf zum Himmel und zähle die Sterne. Kannst du sie zählen?“ Vielleicht war dies zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich einen Bibelspruch gehört habe, an den ich mich bis heute erinnern kann. In der Bibel sagt Gott diesen Spruch zu Abraham, (der zu diesem Zeitpunkt noch Abram heißt) und er fügt hinzu: „So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.“ (1. Mose 15,5) Was für eine grandiose Verheißung! Dabei ist Abraham zu diesem Zeitpunkt noch kinderlos und schon ziemlich alt. Im nächsten Satz heißt es dann: „Und Abraham glaubt dem Herrn.“ Das ist die erste Stelle in der Bibel, in der das Wort „glauben“ vorkommt. Der Sache nach kommt „glauben“ aber schon vorher vor, gerade auch in der Geschichte von Abraham. In Kapitel 12 sagt Gott zu Abraham:
„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen und verfluchen, die dich verfluchen und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (1.Mose 12,1-3)
Abraham bekommt von Gott einen Befehl und gleichzeitig eine Verheißung. Ich glaube, bei uns heutigen Menschen ist das manchmal bis zu einem gewissen Grad ähnlich. Wir haben eine Ahnung, was Gott von uns getan haben möchte. Und ab und zu haben wir auch eine Idee oder Vorstellung davon, was Positives daraus entstehen könnte. Aber gleichzeitig haben wir oft auch Angst. Geht das gut? Was ist, wenn es nicht klappt? Auch wenn es nicht im Text steht, vermute ich doch sehr stark, dass Abraham auch Angst hatte. Immerhin soll er abgesehen von seiner engsten Familie alles verlassen. Aber Abraham überwindet seine Angst. Sein Glaube ist größer als seine Angst. „Und Abraham ging, wie ihm der Herr gesagt hatte.“ (1. Mose 12, 4)
Mit Abraham beginnt die sog. Vätergeschichte. Nach Abraham kommt Isaak und nach Isaak kommt Jakob. Abraham, Isaak und Jakob gelten als die Erzväter Israels. Davor, in den ersten elf Kapiteln der Bibel steht die sog. Urgeschichte. Dort wird von der Erschaffung der Welt erzählt, vom Paradies, vom Sündenfall, dann kommt die Geschichte von Kain und Abel, die wir etwas ausgeschmückt eben im Theaterstück gesehen haben, dann die Geschichte von der Sintflut und der Arche Noah und schließlich die Geschichte vom Turmbau zu Babel. In der Urgeschichte wird beschrieben, wie der Mensch auch heute noch oft genug ist: Adam und Eva wird von Gott gesagt, dass sie von allen Bäumen des Gartens essen dürfen, nur vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, davon dürfen sie nicht essen. Dann flüstert ihnen aber die Schlange ins Ohr: „Sollte Gott gesagt haben?“ (1. Mose 3,1) Und sie setzen sich über das Gebot hinweg. Dann die Geschichte von Kain und Abel. Einer wird bevorzugt, der andere benachteiligt. Daraus entsteht Eifersucht und daraus wiederum Gewalt bis zu Mord und Totschlag. Im Zusammenhang der Geschichte von der Sintflut und der Arche Noah steht der Satz: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ (1. Mose 8,21) Nicht immer, aber immer wieder. Schließlich die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Menschen nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand und bauen einen Turm, der bis zum Himmel reichen soll, ohne dabei nach Gott zu fragen. Das Ergebnis ist, dass sie sich nicht mehr verstehen.
Heute vor 80 Jahren, am 13. April 1945 wurde der Arzt Hans Graf von Lehndorff 35 Jahre alt. Lehndorff erlebte seinen Geburtstag in Königsberg in Ostpreußen. Königsberg war die erste deutsche Großstadt, die vier Tage vorher, am 9. April 1945 von der Roten Armee erobert wurde. Lehndorff hat damals Tagebuch geführt, das er Anfang der 60er Jahre veröffentlicht hat. Am 9. April, dem Tag der Einnahme Königsbergs durch die Rote Armee schreibt er u.a.: „Was ist das eigentlich, was wir hier erleben? Hat das noch etwas mit natürlicher Wildheit zu tun oder mit Rache? … Woher kommen diese Typen, Menschen wie wir, im Banne von Trieben … Welch ein Bemühen, das Chaos zur Schau zu tragen! … Und diese verhetzten Kinder, fünfzehnjährig, sechzehnjährig, die sich wie Wölfe über die Frauen stürzen, ohne recht zu wissen, um was es sich dreht. Das hat nichts mit Russland zu tun, nichts mit einem bestimmten Volk oder einer Rasse – das ist der Mensch ohne Gott, die Fratze des Menschen.“[1] Dabei darf nicht vergessen werden, dass dies eine Vorgeschichte hat, ohne die es zu dem, was Lehndorff schildert, nicht gekommen wäre. Und all dies ist eine Fortsetzung der Kain und Abel Geschichte. Der eine Mensch ist dem anderen sein Teufel. Und vor dem Hintergrund der Kain und Abel Geschichte oder allgemeiner vor dem Hintergrund der Urgeschichte ist die Abraham-Geschichte zu verstehen. Abraham nimmt seine Zukunft nicht selber in die Hand, sondern er lässt Gott über sich bestimmen. Er hätte sich anders entscheiden können. Aber indem er Gott gehorcht und das Unternehmen wagt, kann mit Abraham Gottes Segensgeschichte mit den Menschen beginnen, die die Geschichte unter dem Fluch ablöst. Und wir können dabei mitwirken. Denn es geht bei der Urgeschichte und der Vätergeschichte nicht primär um zwei aufeinanderfolgende Epochen, sondern primär um zwei verschiedene Arten des Menschseins. In der Urgeschichte wird der von sich selbst und von Gott entfremdete Mensch gezeichnet. In der Abrahamsgeschichte bekommt der Mensch im Glauben sein eigentliches, ihm gemäßes Wesen zurück.[2]
Wie können wir an der Segensgeschichte Abrahams mitwirken? Zunächst indem wir nach Gottes Willen für uns fragen und dies dann im Glauben umzusetzen versuchen. Oft genug hat das etwas mit der Heilung von Beziehungen zu tun. Unsere Welt ist gebrochen. Und täglich scheint es mehr zu werden. Dafür sind die Tonscherben, die Sie am Anfang bekommen haben, ein Symbol. Überlegen Sie sich, wo Sie im übertragenen Sinn zwei, drei oder vier Tonscherben wieder zusammenkitten können. Vielleicht tippt Ihnen Gott gerade jetzt auf die Schulter und flüstert Ihnen zu: Sei ein Segen in deiner Familie, sei ein Segen an deinem Arbeitsplatz, in der Schule, in der Universität und füge dort zwei oder drei Scherben im übertragenen Sinn wieder zusammen. Vielleicht sagt er Ihnen auch: Hilf mir beim Bau meines Reiches, engagiere dich in deiner Kirchengemeinde, trete bei der nächsten Presbyteriumswahl an, studiere Theologie! Verglichen mit den Zahlen in den 80er Jahren, als ich studiert habe, gibt es heute geschätzt noch 5% Theologiestudierende. Wer wird in 20 Jahren, wenn meine Generation abgetreten ist, das Evangelium verkündigen? Und ich wage die Behauptung: Die Verkündigung des Evangeliums ist das Wichtigste auf dieser Welt!
Heute ist Palmsonntag, der Tag, an dem wir des Einzugs Jesu in Jerusalem gedenken. Kurz bevor Jesus mit seinen Jüngern nach Jerusalem kommt, kommen sie an einem Dorf vorbei. Und Jesus sagt zu zwei seiner Jünger, dass sie in dieses Dorf gehen sollen, um einen Esel zu holen, auf dem Jesus dann in Jerusalem einziehen will. Und wenn sie gefragt werden, warum sie diesen Esel holen, sollen sie antworten: „Der Herr bedarf seiner.“ (Lk 19,31) Der Herr bedarf seiner. Der Herr braucht den Esel. Er braucht ihn, damit er ihn nach Jerusalem bringt. Der Herr bedarf seiner. Der Herr braucht auch uns. Er braucht dich und mich, damit wir ihn irgendwo hinbringen, wo er vielleicht noch nicht war oder schon lange nicht mehr gewesen ist. Damit auch dort die Segensgeschichte Gottes mit den Menschen weitergehen kann. Und vielleicht gilt dann im übertragenen Sinn Gottes Verheißung zu Abraham auch für uns: Sieh auf zum Himmel und zähle die Sterne. Kannst du sie zählen? So zahlreich sollen deine Nachkommen sein. So zahlreich soll der Segen sein, der von dir ausgeht! Amen!