Wenn Gott schweigt

Liebe Gemeinde!

 

Vor einigen Wochen habe ich mich mit einem Pfarrerskollegen unterhalten, der acht Jahre lang vor dem Völkermord in Ruanda gelebt hat. Der Pfarrer erzählte, dass er während des Völkermords mit einem ehemaligen Mitarbeiter aus Ruanda telefoniert hat und der ihm durch das Telefon hindurch gesagt hat: „Da draußen, da laufen sie wieder. Ich seh die Mörder durch das Fenster.“ Der Pfarrer hat diesen ehemaligen Mitarbeiter nie wieder gesehen. Er wurde ermordet. Der Pfarrer sagte, dass er sich damals die sog. Theodizeefrage, die Frage: Wie kann Gott das Leid in der Welt zulassen?, so intensiv stellte wie nie zuvor. Ja, er habe sich damals ganz ernsthaft gefragt, ob er den Beruf des Pfarrers weiter würde ausüben können. Dieser Pfarrer war damals in gewisser Weise in einer Karsamstags-Situation. Was heißt das? Der christliche Glaube basiert ganz entscheidend auf den Geschehnissen von zwei Tagen: Karfreitag und Ostersonntag. Karfreitag ist der Tag der Kreuzigung der Herrn Jesus Christus. Ostersonntag ist der Tag der Auferstehung des Herrn Jesus Christus. Karsamstag, der Tag dazwischen, ist der Tag des Schweigens Gottes. Was macht man an einem Karsamstag? Es gibt Menschen, die verzweifeln, sie fallen vom Glauben ab oder fühlen sich bestätigt in ihrer Meinung: Es gibt keinen Gott. Vor zwei, drei Jahren ist eine ehemalige Schülerin unserer Schule bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Eine Freundin von ihr hat mich in der Schule in ihrer Klasse gefragt, wie Gott das zulassen konnte. Ich konnte ihr keine Antwort auf diese Frage geben. Aber ich habe in dieser Klasse ein deutliches Sich-Abwenden von Gott gespürt bzw. Sich-bestätigt fühlen in der Meinung, es gibt keinen Gott. Man kann an seinem persönlichen Karsamstag aber auch ganz anders reagieren und sich Gott ganz bewusst zuwenden. Eine entfernte Tante meiner Frau hat im Abstand von mehreren Jahren bei zwei verschiedenen Verkehrsunfällen zuerst ihren Mann und dann ihren einzigen Sohn verloren. Diese Frau hat sich Gott ganz bewusst zugewandt. Sie arbeitet in ihrer Kirchengemeinde mit, wo sie sich mit anderen Christen austauschen kann. Der Glaube und das Mitarbeiten in der Kirchengemeinde geben ihrem Leben Halt und Sinn.

Der Pfarrer von dem ich eingangs sprach, bekam an seinem persönlichen Karsamstag einen Anruf. Einen Anruf von einer Frau aus Ruanda, die seit vielen Jahren in Deutschland lebte. Sie fragte ihn im Mai 1994, als der Völkermord in Ruanda in vollem Gange war, ob er bei einem Gedenkgottesdienst in Bonn, bei dem es um den Völkermord in Ruanda gehen sollte, die Predigt halten könnte. Aus dem Gefühl heraus helfen zu wollen, sagte der Pfarrer zu und brauchte doch selber Hilfe. Es ging ihm ganz ähnlich wie dem Pfarrer zu Beginn des Theaterstücks. Er sollte das Evangelium predigen und brauchte doch zuerst selber das Evangelium, um es anderen predigen zu können. Die Hilfe wurde ihm gewährt, als er in der Bibel nach einem passenden Predigttext suchte. Er fand die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok (1. Mose 32, 23 – 33). Jakob ist mit seiner Großfamilie, die er in der Fremde gegründet hatte, auf dem Weg zurück in seine Heimat. Er weiß, dass es zu einer Begegnung mit seinem Bruder Esau kommen wird, den er vor Jahren übers Ohr gehauen und deswegen die Heimat verlassen hatte. Jetzt wird ihm angesagt, dass Esau ihm mit 400 Mann entgegenkommt. Die Angst von Jakob wird dadurch nicht gerade geringer. Als er an einem Fluss namens Jabbok ankommt, bringt er seine Familie an das andere Ufer. Er selbst bleibt am diesseitigen Ufer, um dort zu schlafen. Da wird er von einem Unbekannten angegriffen. Während des Kampfs bekommt Jakob einen Schlag auf die Hüfte, der dazu führt, dass er bis zu seinem Lebensende hinken wird. Zunächst ist nicht klar, mit wem Jakob da eigentlich kämpft. Im Laufe der Geschichte beginnt man zu ahnen, dass es Gott ist, mit dem er kämpft. Beim Morgengrauen will der Unbekannte sich von Jakob losreißen. Aber Jakob hält ihn fest und sagt zu ihm: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Oder in einer neueren Übersetzung: „Ich lasse dich nicht los, bevor du mich nicht gesegnet hast.“ Dieser Spruch, liebe Gemeinde, steht in meinem Ehering. Es ist der Trauspruch von meiner Frau und mir. Gott, wir lassen dich nicht los, bevor du uns nicht gesegnet hast. Wir lassen dich nicht los, bevor du uns nicht das starke Gefühl gibst, mit den Problemen, die es auch in unserer Ehe geben wird, fertig zu werden. Wir lassen dich nicht los, bevor du uns nicht das starke Gefühl gibst, dass du uns bei der Bewältigung der Probleme unseres Alltags helfen wirst. Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Jakob wird die Bitte gewährt. Er wird gesegnet. Und dann heißt es wörtlich in der Geschichte: Und ihm (gemeint ist Jakob), und ihm ging die Sonne auf. Und ihm ging die Sonne auf. Dieser Satz wurde für den Pfarrer zum Evangelium, zur frohen Botschaft. Ein neuer Anfang ist möglich. Und ihm ging die Sonne auf. Ähnlich wie Jakob wird der Pfarrer, der unzählige Freunde in Ruanda verloren hat, im übertragenen Sinne bis an seine Lebensende ein Hinkender bleiben. Die Frage nach dem Warum des Völkermords wird er bis an sein Lebensende nicht beantworten können. Ähnlich wie Jakob werden auch die Schülerin, die ihre Freundin verloren hat, werden die Tante meiner Frau, die ihren Mann und ihren einzigen Sohn verloren hat, ähnlich wie Jakob werden wir wahrscheinlich alle im übertragenen Sinne Hinkende bleiben in Bezug auf das Leid, das wir an unserem persönlichen Karfreitag erleben mussten. Aber es besteht die Chance, dass auch für uns wieder die Sonne aufgeht. Suchen wir Gott an unserem persönlichen Karsamstag, ringen wir – ähnlich wie Jakob – mit ihm im Gebet, lassen wir ihn nicht los, bevor er uns nicht gesegnet hat, damit auch für uns wieder die Sonne aufgeht und wir einen Vorgeschmack bekommen auf den Ostersonntag, auf den Tag, an dem Gott alle Tränen abwischen wird, auf den Tag, an dem Gott sein wird alles in allem. Amen.

 

Die Idee für diese Predigt verdanke ich dem Buch von Pete Greig, Offline. Warum antwortest du nicht, Gott? Gießen 2009 sowie dem Vortrag "Wenn Gott schweigt" von John Ortberg beim Willow Creek Leitungskongress am 08.02.2014 in Leipzig.