Livin' on a prayer

Liebe Gemeinde,

der Sohn eines steinreichen Ölproduzenten wird von seinem Vater zum Studium in die USA geschickt. Nach wenigen Wochen schickt der Sohn seinen ersten Brief nach Hause an seinen Vater: „Lieber Papa, Amerika ist ein wundervolles Land, Miami ist eine tolle Stadt, die Leute hier sind freundlich und nett. Ich fühle mich hier sehr wohl. Es ist mir nur etwas peinlich, wenn ich mit meinem goldenen Bugatti zur Uni fahre, weil fast alle anderen Studenten und auch die meisten Professoren mit dem Zug kommen.“ Es dauert nicht lange, bis der Sohn eine Antwort von seinem Vater in den Händen hält: „Mein lieber Sohn, ich habe Dir soeben 200 Millionen Dollar überwiesen. Mach uns nicht lächerlich und bring unserer Familie keine Schande. Du kaufst Dir sofort auch einen Zug! In Liebe, Dein Papa.“ Ein Vater sendet seinen Sohn und der Sohn hat eine Mission. Er soll der Familie keine Schande machen. Was ist die Mission des Sohnes, den der Vater schickt und dessen Geburtstag wir in wenigen Tagen an Weihnachten feiern? Ein Sohn, der in einem Stall in Bethlehem zur Welt kommt, dessen Leben schon als Säugling in Gefahr ist, weil König Herodes ihm nach eben diesem Leben trachtet. Der deshalb mit Maria und Josef oder besser Maria und Josef mit ihm nach Ägypten fliehen, wo sie im Asyl leben, bis die Gefahr vorüber ist. Der als junger Erwachsener nicht mit einem goldenen Bugatti in die Stadt Jerusalem einfährt, auch nicht mit einem Äquivalent eines Bugattis für die damalige Zeit, sondern auf einem Esel in die Stadt kommt, sechs Tage später vor den Toren dieser Stadt gekreuzigt wird und weitere drei Tage später von den Toten aufersteht. Was ist die Mission dieses Sohnes. Seine Mission ist zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (LK 19,10) Wie ist das für die heutige Zeit zu verstehen? Ein Beispiel:

Am 20. Juli 1967 sprang ein sehr gut aussehendes 17 jähriges Mädchen in einer Bucht an der amerikanischen Ostküste per Kopfsprung ins Meer. Sie stand kurz vor ihrem Schulabschluss und sie war eine begeisterte Reiterin. Doch dieser Kopfsprung änderte alles. Sie machte keinen Schulabschluss und konnte nie wieder reiten. Sie war mit ihrem Kopf auf einen harten Gegenstand im an dieser Stelle seichten Wasser geprallt und brach sich das Rückgrat. Sie konnte weder ihre Beine noch ihre Arme wieder bewegen. Man kann sich vorstellen, dass sie sich oft genug verloren vorkam.

Am 15. Oktober dieses Jahres wurde die damals 17 jährige 75 Jahre alt. Ihr Name ist Joni Eareckson-Tada. Ich habe sie in den Sommerferien bei einem großen kirchlichen Kongress in den Räumlichkeiten der Willow Creek Community Church in der Nähe von Chicago live gehört. Sie bekam von allen Rednern und Rednerinnen mit Abstand den größten Applaus. Sie hatte eine besondere Ausstrahlung.

„Eine gut gekleidete junge Frau, die sich gerade die Lippen nachzog“ – schreibt Joni Eareckson-Tada in einem ihrer Bücher – „fing meinen Blick im Spiegel auf und meinte: ‚Oh Joni, Sie sehen immer so zufrieden, ja glücklich aus in Ihrem Rollstuhl. Ich wünschte, ich hätte Ihre innere Freude!‘ Mehrere Frauen um uns herum nickten. ‚Wie machen Sie das bloß?‘ fragte sie und steckte ihren Lippenstift wieder ein. Ich schaute die Frauen an. Sie waren alle sorgfältig gekleidet und trugen schönen Schmuck. Ich sah ihre teuren Kleider, die von erstklassigen Designern stammten und ihre rot lackierten Fingernägel. ‚Möchten Sie es wirklich wissen, wie ich das mache? Die Wahrheit ist, nicht ich mache es. Mehrere Augenbrauen gingen in die Höhe. ‚Soll ich Ihnen erzählen, wie es war, als ich heute morgen aufgewacht bin? … Ein Durchschnittstag sieht für mich folgendermaßen aus‘, sagte ich und holte tief Luft. ‚Nachdem mein Mann Ken um 6 Uhr zur Arbeit gegangen ist, bin ich allein, bis ich um 7 Uhr 30 höre, wie die Haustür aufgeht und eine Freundin kommt und  mir beim Aufstehen hilft. Während ich höre, wie sie Kaffee kocht, bete ich: ‚Oh Herr, meine Freundin wird mich jetzt baden und in den Rollstuhl setzen. Sie wird mich kämmen und mir die Zähne putzen. Herr Jesus, ich habe nicht die Kraft, diese Routine auch nur noch ein einziges Mal zu überstehen. Ich habe keine Kraft mehr. Ich habe kein Lächeln mehr, mit dem ich in den Tag gehen könnte. Aber Du hast es. Herr, ich bitte dich, schenke mir ein Lächeln. Ich brauche dich, Herr, ich brauche dich wirklich! Ich habe dich unbedingt nötig!‘ Mit einem Mal entspannten sich die Frauen um mich herum. Unter dem Make-up und trotz ihres Schmucks sah ich ihnen an, dass auch sie ihr Päckchen zu tragen hatten. Sie waren erschöpft, ausgelaugt, manche waren innerlich tief verletzt und wie erstarrt. Und sie wollten mehr wissen: ‚Und was passiert, wenn ihre Freundin das Schlafzimmer betritt?‘ ‚Ich drehe meinen Kopf auf dem Kissen‘, seufzte ich ‚und schenke ihr ein Lächeln, das direkt aus dem Himmel kommt. Gott hat es mir geschenkt. Die Freude, die sie heute sehen‘, sagte ich und deutete auf meine gelähmten Beine, ‚ist heute Morgen schwer errungen worden. Es war ganz still im Raum geworden. ‚Ich versichere Ihnen, es ist für mich die einzige Möglichkeit zu leben. Es ist die einzige Möglichkeit, ein Leben als Christ zu führen. Und vielleicht sind es ja nicht einmal die Menschen mit Behinderung, die Gott am nötigsten haben.“[1]

Liebe Gemeinde, wir alle haben unsere Päckchen zu tragen. Die meisten von uns kennen das Gefühl, einen geliebten Menschen verloren zu haben. Vor diesem GoSpecial hat mich jemand angeschrieben, der jetzt auch hier ist, dass vor Kurzem seine Oma verstorben ist. Ich musste daran denken, als meine Oma verstorben ist, als mein Vater und meine Mutter verstorben sind. Ich kenne das Gefühl. Schreckensnachrichten wie die Amokfahrt in Magdeburg erschüttern uns. Ganz zu schweigen von dem Krieg in der Ukraine und dem im Gaza-Streifen.

Aber gerade in unserem Leid will Jesus Christus uns aufsuchen. Er klopft an unseres Herzens Tür, so wie er an Joni Eareckson-Tadas Herzens Tür geklopft hat. Er will sich Bahn brechen durch all den Schutt, all das Geröll, all den festen Stein in unserem Leben. Spüren wir, dass da etwas in unserem Innern aufspringen will Christus entgegen? So wie bei Joni Eareckson-Tada? Spüren wir, dass das nicht nur bildhafte Rede ist, sondern dass da etwas geschieht, dass Menschenseelen aufgerichtet und geheilt werden? Dass der Himmel sich zur Erde neigt, Gott zu den Menschen? Ist in uns wenigstens ein Rest von Sehnsucht, von Erkenntnis dessen, was Erlösung heißen könnte? Wenn nicht, was wollen wir dann vom Advent? Was wollen wir dann von Weihnachten? Ein bisschen Sentimentalität, ein bisschen Stimmung? Mir wäre das zu wenig, Joni Eareckson-Tada wäre das mit Sicherheit zu wenig und auch Tommy und Gina aus unserem Theaterstück, das in etwa dem Text des Liedes „Livin‘ on a prayer“ von Bon Jovi entspricht, auch Tommy und Gina aus unserem Theaterstück wäre das zu wenig. Es geht ihnen materiell nicht gut. Tommy hat seine Arbeit verloren und sogar seine geliebte Gitarre verpfändet. Aber sie halten zusammen und sie halten fest am Gebet, ja sie leben aus dem Gebet.

Halten auch wir fest am Gebet, leben auch wir aus dem Gebet oder fangen endlich wieder an zu beten, wenn wir es lange nicht getan haben. Wenn wir es oft genug und intensiv genug tun, werden wir spätestens dann das Klopfen Jesu an unseres Herzens Tür hören. Öffnen wir ihm unseres Herzens Tür. Dann kann Weihnachten kommen und wir sind bereit. Gott kommt zu uns, zu Dir und zu mir. Christ, der Retter ist da! Amen.[2]



[1] Joni Eareckson-Tada, Der Gott, den ich liebe. Meine Lebensgeschichte, Bielefeld, 2. Aufl. 2024, 374-376.

[2] Im letzten Teil sind einige Passagen übernommen aus einer Predigt von Dietrich Bonhoeffer, die er am 1. Advent, am 3. Dezember 1933 in London gehalten hat. Die Predigt ist abgedruckt in DBW 13, Gütersloh 1994, 332-337.