"Es lebe die Freiheit" - Die Weiße Rose und der christliche Glaube
Liebe Gemeinde,
am 18. Februar 1943 betreten die Geschwister Hans und Sophie Scholl am helllichten Tag, morgens kurz vor 11 Uhr, die Ludwigs-Maximilians Universität München und legen auf Fenstersimsen und Treppenstufen einen großen Teil des Rests der nicht per Post verschickten Exemplare des sechsten und letzten Flugblatts der Weißen Rose aus. In wenigen Minuten wird es klingeln. Dann werden mehrere hundert Studenten ihre Vorlesungssäle verlassen. Alles geht sehr schnell. Ruckzuck sind die Geschwister wieder auf der Straße. Aber sie haben noch weitere Exemplare in ihrem Koffer. Sie halten inne, schauen sich kurz an, ein einvernehmlicher Blick und schon sind sie wieder im Universitätsgebäude. Sie laufen hoch zur ersten Etage, legen dort weitere Flugblätter aus. Dann hoch in die zweite Etage, legen auch dort weitere Flugblätter aus. Und dann nimmt Sophie Scholl einen ganzen Stapel Flugblätter in die Hand und wirft sie über die Brüstung hinab ins Foyer. Noch hat es nicht geklingelt, noch sind mehrere hundert Studenten in ihren Vorlesungssälen, noch ist das Foyer menschenleer. Genauer gesagt: Mittlerweile ist es nur noch fast menschenleer. Der Hausmeister, Jakob Schmid, ist gerade hereingekommen und sieht die Flugblätter im wahrsten Sinne des Wortes hinab ins Foyer fliegen. Nicht gesehen hat er, wer die Flugblätter geworfen hat und so läuft er die Treppenstufen hoch, um eben dies in Erfahrung zu bringen. Als er oben in der zweiten Etage ankommt, kippt Hans Scholl gerade den Rest der Flugblätter aus dem Koffer über die Brüstung hinab ins Foyer. „Sie sind verhaftet“, ruft der Hausmeister.[1] Dies war der Anfang vom Ende der Weißen Rose. In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten werden fünf Männer und eine Frau vom sog. Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Besser gesagt: Sie werden von der nationalsozialistischen Verbrecherjustiz ermordet. Hans Scholl, der Kopf der Gruppe, wird unmittelbar vor seiner Ermordung den Satz ausrufen: „Es lebe die Freiheit!“
Wer war die Weiße Rose? Und was gab ihren Mitgliedern die innere Kraft zum Widerstand gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime? Die Weiße Rose, oder besser gesagt der Kern der Weißen Rose, bestand aus vier Studenten, einer Studentin und einem Professor, die mit insgesamt sechs Flugblättern zum Widerstand gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime aufriefen. Drei von ihnen schrieben darüber hinaus nachts an Mauern und Wände in München Parolen wie „Nieder mit Hitler“, „Massenmörder Hitler“ und das Wort „Freiheit.“ Die Medizinstudenten Hans Scholl und Alexander Schmorell schrieben zwischen dem 27. Juni und 12. Juli 1942 die ersten vier Flugblätter und verschickten sie zu jeweils etwa 100 Exemplaren per Post an Akademiker und Wirtshäuser. Die Adressen entnahmen sie einem Telefonbuch. Die vier anderen – späteren - Mitglieder der Weißen Rose wussten von den Verfassern dieser ersten vier Flugblätter vermutlich noch nichts, mit Ausnahme vielleicht von Sophie Scholl, bei der man nicht genau weiß, ab wann sie in die Aktivitäten ihres Bruders eingeweiht war.[2] Etwa 14 Tage nach dem Verfassen des vierten Flugblattes müssen Hans Scholl und Alexander Schmorell als Sanitätsfeldwebel an die Ostfront. Zu ihrer Einheit gehört auch Willi Graf, ebenfalls Medizinstudent und Sanitätsfeldwebel. Er war der Saarländer der Gruppe. Er ist zwar nicht im Saarland geboren, aber in Saarbrücken aufgewachsen und hat am Ludwigsgymnasium Abitur gemacht. Am Mittag des 26. Juli 1942 erreicht die Gruppe Warschau. Erst am Abend des 28. Juli geht ihr Zug weiter nach Osten. Zweieinhalb Tage verbringen sie in der polnischen Hauptstadt und sehen unbeschreibliches Elend und Leid. Wenige Tage vorher hat die SS damit begonnen, täglich mehrere Tausend Juden aus dem Warschauer Getto in das Vernichtungslager Treblinka zu deportieren.[3] In einem Brief an Prof. Kurt Huber schreiben die drei zusammen mit einem vierten Sanitätsfeldwebel u.a.: „Die Stadt, das Ghetto und alles Drum und Dran hatte auf alle einen sehr entscheidenden Eindruck gemacht.“[4] Wir haben hier die Andeutung einer ersten Antwort auf die Frage, was den Mitgliedern der Weißen Rose die innere Kraft zum Widerstand gab. Es war der Schrecken vor dem unbeschreiblichen Leid und den unbeschreiblichen Verbrechen der Nationalsozialisten, die sie mit eigenen Augen sahen, die bei ihnen zu einer Haltung führte, dass irgendjemand etwas dagegen tun muss. Und sie fühlten, dass sie etwas dagegen tun müssen. Von Willi Graf stammt der Satz: „Jeder trägt selbst die ganze Verantwortung.“[5] Aber es war nicht nur dieses „Irgendjemand müsste etwas dagegen tun, das ihnen die Kraft zum Widerstand gab. Etwa zwei Wochen nach dem Brief an Prof. Huber schreibt Hans Scholl in sein Tagebuch: „“Wenn Christus nicht gelebt hätte und nicht gestorben wäre, gäbe es wirklich gar keinen Ausweg. Dann müsste alles Weinen grauenhaft sinnlos sein. Dann müsste man mit dem Kopf gegen die nächste Mauer rennen und sich den Schädel zertrümmern. So aber nicht.“[6] Es war der Glaube an Jesus Christus, der Hans Scholl die innere Kraft zum Widerstand gab. Und Hans Scholl steht hierbei exemplarisch für die anderen Mitglieder der Weißen Rose. Seine Schwester Sophie schreib etwa zwei Monate später an ihren Verlobten Fritz Hartnagel, dessen Einheit auf dem Weg nach Stalingrad war: „Fritz, lies dieses Kapitel (Römer 8) unbedingt selbst durch, nach diesem Brief, oder jetzt gleich. Und lies den herrlichen Satz zu Beginn: Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christus Jesus, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. – Sind jene nicht arm, entsetzlich arm, die dies nicht wissen und glauben?“[7]
Für die Freiheit vom Gesetz der Sünde und des Todes haben die Mitglieder der Weißen Rose sich eingesetzt. Sie haben dafür gekämpft, dass das millionenfache Morden ein Ende findet und haben dafür ihr Leben eingesetzt und letztlich mit ihrem Leben dafür bezahlt. Wenn ihr Glaube gewiss ein immer auch angefochtener Glaube war, so hat dieser Glaube ihr Denken und Tun doch entscheidend bestimmt. Wenn Christoph Probst kurz vor seiner Ermordung zu den Geschwistern Scholl sagt: „In wenigen Minuten sehen wir uns in der Ewigkeit wieder“[8], wenn Alexander Schmorell in seinem Abschiedsbrief schreibt, dass er in wenigen Stunden bei seiner Mutter sein wird, die als 24 jährige kurz nach seiner Geburt starb[9], wenn Kurt Huber von einem besseren Jenseits spricht[10] und Willi Graf seine Angehörigen auffordert auf Gottes Hand zu vertrauen, der alles zum Besten lenkt, auch wenn es im Moment bitteren Schmerz bereitet, dann kommt in diesen Aussagen der Glaube an die Freiheit vom Tod zum Ausdruck. Der Gefängnispfarrer Dr. Kalt Alt, der die Geschwister Scholl auf dem letzten Lebensweg begleitet hat, hat im Jahr 1946 ein Buch über seine Erlebnisse im Gefängnis München-Stadelheim geschrieben, in dem es heißt: „Wir sahen Menschen, die trotz Ketten und Kerkermauern wahrhaft frei waren, die allerfreisten aber waren solche, die dem sicheren Tod ohne Entsetzen entgegensahen, weil sie das Leben besaßen, das kein Tod töten kann.“[11] Dieses Leben hat Gott uns nach christlichem Glauben in Jesus Christus angeboten. Es ist ein qualitativ hochwertiges Leben und es hat etwas mit Weihnachten zu tun. Vielleicht können wir ähnliches Erleben, was Hans Scholl am 22. Dezember 1941 an seinen väterlichen Freund Carl Muth geschrieben hat: „Ich bin erfüllt von der Freude, zum ersten Mal in meinem Leben Weihnachten eigentlich und in klarer Überzeugung christlich zu feiern. Wohl sind die Spuren der Kindheit nicht verweht gewesen, als man unbekümmert in die Lichter und das strahlende Antlitz der Mutter blickte. Aber Schatten sind darüber gefallen; ich quälte mich in einer gehaltlosen Zeit in nutzlosen Bahnen, deren Ende immer dasselbe verlassene Gefühl war und immer dieselbe Leere ... Eines Tages ist dann von irgendwoher die Lösung gefallen. Ich hörte den Namen des Herrn und vernahm ihn. … Dann ist es von Tag zu Tag heller geworden. Dann ist es wie Schuppen von meinen Augen gefallen. Ich bete. Ich spüre einen sicheren Hintergrund und ich sehe ein sicheres Ziel. Mir ist in diesem Jahr Christus neu geboren.“[12]
[1] Vgl. H. Steffahn, Die Weiße Rose, Reinbek, 9. Aufl. 2011, 103ff und B. Beuys, Sophie Scholl. Biographie, München, 2. Aufl. 2017, 442.
[2] Vgl. Steffahn, 65ff, Beuys,362ff.
[3] Vgl. dazu: D. Bald, Die Deportation der Juden aus Warschau Ende Juli 1942. Ghetto und Stadt. Mit den Aufzeichnungen „Russische Erde“ von Jürgen Wittenstein, in: ders./J. Knab (Hg.) Die Stärkeren im Geiste. Zum christlichen Widerstand der Weißen Rose, Berlin 2012, 151ff.
[4] I. Jens (Hg.), Hans Scholl, Sophie Scholl, Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt 1984, 85.
[5] In einem Brief an sein Schwester Anneliese vom 06.06.1942; vgl.: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/60993/willi-graf (zuletzt aufgerufen am 04.01.2019)
[6] Jens, a.a.O., 103.
[7] Ebd. 224.
[8]http://www.spiegel.de/einestages/hinrichtung-von-hans-und-sophie-scholl-erzogen-zum-widerstand-a-951049.html (zuletzt aufgerufen am 04.01.2019)
[9] Vgl. R.M. Zoske, Sehnsucht nach dem Lichte, Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe, Texte, München 2014, 709.
[10]http://www.literarischebriefe.de/abschiedsbriefe_huber_kurt.htm (zuletzt aufgerufen am 04.01.2019)
[11] K. Alt, Todeskandidaten. Erlebnisse eines Seelsorgers im Gefängnis München-Stadelheim mit zahlreichen im Hitlerreich zum Tode verurteilten Männern und Frauen, München 1946, 3.
[12] In: Jens, 75.